Passerelle Simone-de-Beauvoir
Paris, Frankreich - 2006

Bauherr Stadt Paris
Baukosten 18.9 M Euro
Wettbewerb 10 | 1998
Planungsbeginn 06 | 1999
Baubeginn 06 | 2004
Fertigstellung 07 | 2006

Mies van der Rohe Award, Nominierung, 2007 | Equerre d‘Argent, französischer Architekturpreis 2006, Auszeichnung

Gesamtlänge 304 m, Breite 12 m, freie Spannweite 190 m

Auszug aus „Architektur Aktuell“ September 2006, Autor: Matthias Böckl. "Schwebender Stadtraum"

Die neueste Brücke über die Seine in Paris ist nicht nur ein konstruktives Erlebnis: Sie vermittelt auch unerwartete Stadt-Wahrnehmungen auf mehreren, rhythmisch verflochtenen Ebenen. Zwei neue Stadtquartiere werden so auf poetische Weise miteinander verbunden. Die Brücke ist das zentrale Verbindungsglied eines groß angelegten Stadtumbaus des Pariser Ostens. Dort, wo sich bis in die 1970er Jahre ausgedehnte Lager- und Markthallenkomplexe befanden, die per Schiff von der Seine her beliefert wurden, sind mit dem Parc de Bercy am Nordufer und dem neuen Stadtteil rund um die Nationalbibliothek von Dominique Perrault am Südufer völlig neue urbane Strukturen entstanden.

Der Erfolg des Konzepts der Passerelle besteht wohl vor allem in ihrer verblüffend einfachen Konstruktionslösung, die eine Vielzahl von unerwarteten Zusatzleistungen, höchste Eleganz sowie komplexe Nutzungs- und Interpretationsmöglichkeiten bietet. Vor allem städtebaulich gibt es einen deutlichen Mehrwert: Denn Feichtinger erreichte nicht nur die brückenübliche Verbindung von zwei, sondern gleich von sechs Punkten. Beide Ufer der Seine stufen sich in je drei Ebenen ab: ganz unten liegt der Quai, darüber das Straßenniveau und ganz oben der Park bzw. das Plateau der Nationalbibliothek. Feichtinger schlug im Wettbewerb vor, nicht nur – wie gefordert – die Straßenniveaus, sondern gleich zwei Ebenen beider Flussseiten durch die Passerelle direkt miteinander zu verbinden. Und damit auch eine Verflechtung der entsprechenden Spaziergänge zwischen vier Punkten sowie eine Vermeidung der Überquerung der flussbegleitenden Stadtautobahnen zu erreichen, die auf beiden Ufern die Seine von der angrenzenden Stadt trennen. So gibt es jetzt eine direkte Verbindung vom Park zur Nationalbibliothek, ohne auf das Straßenniveau wechseln zu müssen – ein gewaltiger Zusatznutzen! Vom Straßenniveau – dem unteren Niveau der beiden Brücken-Ebenen – gelangt man dann über Treppen bzw. Rampen schließlich zum untersten, dem Quai- bzw. Wasser-Niveau. Je ein Lift verbindet schließlich alle drei Ebenen miteinander. Diese Schichtung entspricht auch den neuen städtebaulichen Zielen des Quartiers: Denn die Seine, die sich an dieser Stelle zu einem Bassin von 150 Metern Breite und 700 Metern Länge verbreitert, soll ebenso wie die innerstädtischen Wasserflächen anderer europäischer Metropolen in Zukunft als neue Freizeit-Fläche genutzt werden. Dazu gehört auch ein schwimmendes Freibad, das jetzt nahe der Brücke vertäut ist sowie verschiedenste temporäre Wasserveranstaltungen, die auf der Seine ausgetragen werden. Sie können – das war eine weitere Zusatzleistung von Feichtingers Entwurf – von der neuen Passerelle aus wie von einer Zuschauertribüne verfolgt werden, weil sie in der Mitte immerhin zwölf Meter breit ist.
Rein optisch überrascht auf den ersten Blick die enorme freie Spannweite der Brücke von 194 Metern – insgesamt misst sie 304 Meter Gesamtlänge, was exakt der Höhe des Eiffelturms entspricht – bei extrem schlanker, fast filigran erscheinender Konstruktion. Feichtinger löste dieses klassische ästhetische Ideal der Moderne scheinbar mühelos und gerade deshalb so faszinierend ein, indem er die Wegführung der Nutzer mit der Konstruktion fast vollständig zur Deckung brachte – und so kaum ein Element außerhalb der Primärkonstruktion in Kauf nehmen musste, das visuell wirksam wird. Die Königsidee bestand in der raffinierten Kombination einer Hängekonstruktion und eines Bogens, die einander durchdringen. Die Hängekonstruktion besteht aus 10 bzw. 15 cm starken Stahlbändern, die an beiden Ufern über je zwei „Bumerangs“ gespannt werden und senkrecht in der Erde verschwinden, wo sie in einem kleinen unterirdischen Raum verankert sind. Mit hydraulischen Dämpfern – Hi-Tech-Geräte, von denen jedes eine halbe Million Euro kostet – werden an den Brückenenden die Schwingungen kontrolliert. Die Wegführung über die Brücke erfährt durch die Durchdringung von Bogen und Hängekonstruktion eine intelligente Differenzierung: Die prominentere der beiden Brücken-Ebenen am Park-Ufer ist die obere – sie ist daher breiter geschnitten, während die untere (Straßen-)Ebene in einem schmäleren Band geführt wird, das im Mittelfeld von unten her die Hängekonstruktion durchstößt. Am Südufer bei der Bibliothek ist es genau umgekehrt. Diese Durchdringung der beiden Konstruktionen der Brücke bedingt die charakteristische Linsenform des Mittelstücks – im Scheitelpunkt beträgt der Höhenunterschied 4,5 Meter, die für die Eleganz der Gesamtform und die freie Sicht zur Stadtsilhouette nötig sind. Die Durchschneidung der beiden Elemente der Brücke führt aber auch dazu, dass die untere Ebene im Mittelfeld zur breiteren wird, zu einer Art schwebendem Stadtplatz, sechs Meter über dem Wasserspiegel der Seine.
Mit diesen subtilen, genial einfachen, aber konstruktiv höchst anspruchsvollen architektonischen Mitteln wird der
städtebauliche Kontext nicht nur reflektiert, sondern es werden auch neue Möglichkeiten der Stadtraumnutzung
geschaffen, die sich vorher kaum jemand vorstellen konnte. Die Verkehrsfläche der Brücke liegt fast direkt auf der Konstruktion und besteht aus Eichenholz, das in Paneelen von drei Metern Breite und sechs Brettern Tiefe von unten her befestigt ist, damit stehen gebliebenes Regenwasser die Schrauben nicht angreifen kann. Die Reling der Brücke besteht aus breiten Aluhandläufen, unter denen die Beleuchtung der Brücke montiert ist, und aus Nirostanetz. Der Weg über die Brücke hält eine Reihe ungewöhnlicher Eindrücke bereit, unerwartete Stadtraum-Erlebnisse etwa, aber auch ein ganz unterschiedliches Gefälle. Auf der oberen Ebene beträgt es bis zu elf Prozent, was natürlich nicht behindertengerecht ist. Dafür gibt es unten maximal vier Prozent – alle Ebenen können aber auch leicht mithilfe des Lifts am Brückenkopf erreicht werden, sodass sie Behinderten zugänglich sind.
Die verblüffend großzügigen Dimensionen der Brücke, die man im Überschreiten (im Vergleich zu den üblichen
Fußgängerstegen) als gänzlich ungewohnt erlebt, die angenehme Wellenbewegung beim Überschreiten des
Wassers, das mühelose Schweben auf erhöhtem Stadtblick-Niveau von einer Parkanlage über einen Weg aus
Eichenbrettern zur exotischen Holzlandschaft des großen Plateaus der Nationalbibliothek, das sich im Zentrum
seinerseits zu einem versenkten Garten öffnet – all das sind Stadtraum-Erlebnisse, wie sie sich kein Flaneur schöner und abwechslungsreicher wünschen kann. Und in technischer wie ästhetischer Hinsicht ist Feichtingers Passerelle ein absolutes Meisterwerk zeitgenössischen Brückenbaus.


Zum Wettbewerbsprojekt
Film Konstruktion der Passerelle